SELMER Albert-Klarinetten der 1920/30er Jahre
~ besonders bevorzugt bei Jazzklarinettisten ~
Bei meinen Holzklarinetten zählt eine SELMER im Albert-System zu meinen Lieblingsklarinetten, nicht zuletzt deshalb, weil eine solche der New Orleans-Jazzklarinettist George Lewis in den 1960er Jahren spielte. Sie hat einen sehr warmen, schönen und vollen Ton, wie übrigens meine andere Lieblingsklarinette, eine ebenfalls 1932 gebaute PEDLER, die mit der von George Lewis in den 1940er Jahren gespielten Albert-Metallklarinette baugleich ist (siehe ‘rohrblatt Nr. 2/2018, Seite …). Der besondere Klarinettenton war es auch, der bei unserer Katze Lotta ein Wohlbefinden auslöste (Leider starb Lotta 2015, meine Frau und mich machte dies sehr traurig). Immer wenn ich mit meiner PEDLER oder SELMER auf dem Sofa saß und übte, kam Lotta herbei, legte sich neben mich und kniff ihre Augen wohlwollend zu. Bei den hohen Tönen versuchte sie sogar mich zu begleiten, indem sie mit leisem Miauen den Tönen folgte. Und wenn ich die Klarinette abgelegt hatte – auf dem obigen Foto ist es meine SELMER -, nahm Lotta Platz neben der Klarinette und inspizierte sie.
Wahrscheinlich ist nur wenigen ‘rohrblatt-Leserinnen und -Lesern bekannt, dass SELMER neben ihren heute nur noch im Boehm-System erhältlichen Klarinetten früher auch deutschgriffige Klarinetten, also Albert-Klarinetten, baute. Besonders in den 1920/30er Jahren hatte SELMER von den Jazzmusikern besonders bevorzugte Albert-Klarinetten mit 4, 5 und 6 Ringen im Programm. Bei den “improved“ Albert-Klarinetten ab den 1930er Jahren war dann die Tief-E-Klappe auf die rechte Instrumentenseite verlegt, ein Feature, das es also schon gab, lange bevor SCHWENK & SEGGELKE in Bamberg eine solche Klappenanordnung als ihre Innovation verkauften. Die nach rechts verlegte untere E-Klappe hat bei SELMER ein einfacheres und schöneres Design; bei SCHWENK & SEGGELKE erinnert diese Klappenverlegung an die bis um 1920 in New York hergestellten BERTELING Albert-Klarinetten, ist aber wie die ganze Mechanik etwas klobig ausgeführt. Übrigens findet man die von SELMER gewählte Art der Tief-E-Klappenverlegung, allerdings ohne die übliche separate Achse für die Tief-As-Klappe, bei den von G. H. HÜLLER in Schöneck/Vogtland rund 20 Jahre zuvor im sog. Hüller-Stümpel-System angebotenen Klarinetten (1912 hatte G. H. HÜLLER die in Minden/Westfalen ansässig gewesene Firma H. C. STÜMPEL aufgekauft). SELMER Klarinetten im “improved“ Albert-System, also mit dem “three in a row“-Design für drei unteren Klappen, sind heute sehr schwer zu finden (besonders das „George Lewis“-Modell mit 4 Ringen, 3 Triller und gebogener Duodezimklappe) und nur für sehr teures Geld zu haben.
Alle bedeutenden Jazzklarinettisten des New Orleans-Jazz spielten SELMER Albert-Klarinetten. George Lewis (1900 – 1968) bevorzugte eine SELMER mit 4 Ringen aus dem Jahre 1932, die bis auf die Tief-E-Klappe und die gebogene Duodezimklappe im Klappendesign ziemlich seiner PEDLER Albert-Metallklarinette entsprach. Barney Bigard (1906 – 1980), ein New Orleans-Jazzklarinettist, der längere Zeit Klarinette und Saxophon im Duke Ellington Orchester spielte, bevorzugte SELMER Albert-Klarinetten aus den 1930er Jahren mit 5 und 6 Ringen, letztgenanntes Modell wird als “Full-Albert clarinet“ bezeichnet, während man bei Albert-Klarinetten mit 4 Ringen von “plain Albert clarinets“ spricht. Die wohl bedeutendsten New Orleans-Jazzklarinettisten Jimmie Noone (1895 – 1944) und Johnny Dodds (1892 – 1940) spielten immer auf in den 1920/30er Jahren gebauten SELMER- Albert-Klarinetten mit 6 Ringen. Johnny Dodds verwendete bei den ab 1925 mit Louis Armstrongs Hot 5 entstandenen historischen Schallplattenaufnahmen des klassischen Jazz einen Satz “Full-Albert“-Klarinetten in A und B aus den frühen 1920er Jahren, die noch die Tief-E-Klappe auf der üblichen linken Instrumentenseite hatten. Ein Riesengemälde dieses Klarinettenmodells ziert über 15 Stockwerke hinweg die Außenfassade des Holiday Inn Hotels in Downtown New Orleans, womit zum Ausdruck gebracht werden soll, dass die Holzbläsertradition genauso wie die Tradition der Trompeter eine große Rolle im alten Jazz spielte.
Weitere Jazzklarinettisten aus New Orleans, die eine Vorliebe zu SELMER Albert-Klarinetten aus den 1930er Jahren mit 6 Ringen und einer geraden oder gebogenen Duodezimklappe hatten, waren Sidney Bechet (1897 – 1959), Omer Simeon (1902 – 1959), Irving Fazola (1912 – 1949) und, bis er auf eine SELMER Boehm-Klarinette wechselte, Albert Nicholas (1900 – 1973). Ray Burke (1904 – 1968) dagegen bevorzugte eine SELMER Albert-Klarinette mit 4 Ringen und rollenlosen Kleinfingerklappen aus den 1920er Jahren. Eine solche SELMER spielte auch Alexandre Stellio (1885 – 1936) von den karibischen Inseln in seinem Orchestre Crêole Antilles. Anfänglich spielten auch Willie Humphrey (1900 – 1994) und Louis Cottrell jr. (1911 – 1978) Albert-Klarinetten von SELMER, entdeckten aber später ihre Liebe zu Albert-Klarinetten von PENZEL-MUELLER aus New York.
SELMER Albert-Klarinetten wurden bis 1930/31 in der K-, dann bis 1939 in der L- und schließlich bis 1946 in der M-Serie hergestellt. SELMER-Klarinetten waren damals schon die teuersten Klarinetten, weshalb sich George Lewis, der nicht vermögend war, erst sehr spät eine SELMER Albert-Klarinette leisten konnte. Es wird gesagt, diese SELMER sei eine Klarinette aus dem Nachlass von Jimmie Noone, die dieser einmal aus Paris von SELMER als Geschenk bekommen hätte. Neben den Holzklarinetten waren von SELMER in den 1920/30er Jahren auch Metallklarinetten im Albert- und Boehm-System erhältlich. Dazuhin wurden für den englischen Markt von SELMER in den 1930er Jahren preisgünstigere Holz- und Metallklarinetten in beiden Systemen unter dem “French Make“-Label “Sterling“ angeboten. Diese Klarinetten waren jedoch keine Billiginstrumente (wie spätere “Sterling“-Klarinetten anderer Hersteller), sondern lediglich mit einem anderen Namen signierte K- und L-Serienmodelle ohne SELMER-Logo. Hauptsächlich für ihren Londoner SELMER Agenten lieferte die Pariser Stammfirma das in England sehr beliebte “Clinton“-Modell, eine Albert-Klarinette also mit einer “Barret action“ am Oberstück. Ferner baute SELMER in den 1930er Jahren neben Halb-Boehm Holz- und Metallklarinetten (siehe ‘rohrblatt Nr. 2/2018, Seite …) noch gedeckelte Albert- und Boehm-Klarinetten und sogar Albert-Klarinetten mit 4 und 6 Ringen, die bis Tief-Es gingen. Exemplare dieser weiteren Albert-Klarinettenmodelle befinden sich – bis auf die mit einer Tief-Es-Klappe ausgestattete SELMER mit 4 Ringen – auch in meiner Sammlung.
Wegen der Authentizität und des kräftigen Tones spielen heute einige jüngere, dem traditionellen Jazz verpflichtete Jazzklarinettisten auf alten SELMER Albert-Holzklarinetten, wie z. B. der Amerikaner Evan Christopher, der Deutsche Matthias Seuffert, der Australier Karl Hird oder der Däne Jesper Capion Larsen. Dazuhin liegen SELMER Albert-Klarinetten besonders gut und komfortabel in den Spielerhänden.
Verschiedene SELMER Albert-Klarinetten in B (A=440) aus der Sammlung von Eberhard Kraut:
Die mit 4 Ringen, einer Schraubbirne und einer LEBLANC-Blattschraube ausgestattete SELMER entspricht der von George Lewis gespielten Albert-Klarinette. George Lewis verwendete häufig eine LEBLANC-Blattschraube, weshalb oftmals gesagt wurde, er spiele auch eine LEBLANC Albert-Klarinette, was aber nie der Fall war. Vielmehr hatte George Lewis Gefallen gefunden an dem ausgestanzten L, das er als sein Signum sah. Das SELMER-Modell, das Ray Burke spielte, ist ganz links abgebildet; rechts davon steht dasselbe Modell mit Rollen an den Kleinfingerklappen. Sidney Bechet und zeitweise Barney Bigard spielten das ganz rechts abgebildete Modell mit gerader Duodezimklappe und Johnny Dodds, Omer Simeon und Irving Fazola die von links als drittes Modell abgebildete SELMER; rechts davon steht dasselbe Modell mit gerader Duodezimklappe. Jimmie Noone und Barney Bigard bevorzugten das von rechts als zweite Klarinette abgebildete Modell mit gebogener Duodezimklappe, das später auch von Johnny Dodds gespielt wurde. Das in der Mitte des Fotos stehende Modell hat statt der nach rechts verlegten Tief-E-Klappe auf der rechten Seite eine dritte Klappe zur Verbesserung des H/Cis-Trillers (Die Tief-E-Klappe befindet sich weiterhin auf der vom Mundstück aus gesehenen linken Instrumentenseite). Rechts daneben steht eine SELMER, die einmal Barney Bigard gehörte und später vom Engländer Chris Blount gespielt wurde.
Ausstattungsmerkmale der SELMER Albert-Klarinetten mit gebogener oder gerader Duodezimklappe:
4 Ringe, 2 Fis-Brillen (die obere ist wie beim Boehm-System rechts angeschlagen), 3 oder 4 Triller und gekoppelte A/As-Klappe am Oberstück, H/Cis-Triller am Unterstück, 4 (oder selten keine) Rollen.
5 Ringe, 2 Fis-Brillen (die obere ist wie beim Boehm-System rechts angeschlagen), 4 Triller, gekoppelte A/As-Klappe, Gabel-B-Mechanik und Gis-Heber am Oberstück, H/Cis-Triller und Es-Heber am Unterstück, 4 Rollen.
6 Ringe, 2 Fis-Brillen (die obere ist wie beim Boehm-System rechts angeschlagen), 4 Triller, gekoppelte A/As-Klappe und Gabel-B-Mechanik am Oberstück, H/Cis-Triller, artikulierte Gis-Klappe mit Fis/Gis-Triller und Es-Heber am Unterstück, 4 Rollen.
Nachbemerkung zur SELMER Albert-Klarinette von George Lewis:
George Lewis‘ SELMER trägt die Seriennummer L2394, Evan Christophers SELMER, die einmal dem Spanier Oscar Font gehörte, die Seriennummer L2371 und meine SELMER, einst im Besitz des Engländers Al Stewart, die Seriennummer L2417. Alle drei SELMER Albert-Klarinetten sind baugleich. Was für ein unglaublicher Zufall, dass die Seriennummer von George Lewis‘ SELMER – diese Albert-Klarinette erhielt nach George Lewis‘ Tod der japanische George Lewis-Schüler Ryoichi Kawai – genau in der Mitte liegt…
Text und Fotos: Eberhard Kraut
Published in ‘Rohrblatt’ No. 3, September 2018 – a German specialist journal for oboe, clarinet, bassoon and saxophone
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